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Agnes Wabnitz (1842–1894)

Das Begräbnis von Agnes Wabnitz am 1. September 1894 war aufsehenerregend. Nach Presseberichten sollen sich mehr als 60.000 Menschen daran beteiligt haben, obwohl die Polizei einen Leichenzug zum Friedhof untersagt hatte. Nach Feststellung der Polizei wurden 630 Kränze niedergelegt, achtzig mehr als bei Kaiser Wilhelm I., der wenige Jahre vorher gestorben war. Agnes Wabnitz hatte zwei Tage zuvor auf dem Friedhof der Märzgefallenen Selbstmord begangen. Es war der Tag, an dem sie eine zehnmonatige Haftstrafe wegen Majestäts- und Gottesbeleidigung im Berliner Frauengefängnis Barnimstraße hätte antreten sollen. Zwei Jahre zuvor war sie bei der Einweisung in die „Barnimstraße” in einen Hungerstreik getreten. Agnes Wabnitz war das Opfer politischer Verfolgung. Das nach der gescheiterten Revolution von 1848 erlassene Vereinsrecht verbot Frauen, sich zu politischen Zwecken zusammenzuschließen, politischen Parteien beizutreten und an politischen Versammlungen teilzunehmen. Agnes Wabnitz war nicht nur Teilnehmerin - sie trat als Rednerin auf, und das immer wieder. Da sie „geschickt wie der sichere Parlamentarier“ auftrat, war sie eine gefragte und beliebte Versammlungsrednerin.

Agnes Wabnitz stammte aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, in die sie 1842 als Tochter eines Gastwirtes in Gleiwitz (Schlesien) geboren wurde. Bis zum frühen Tod des Vaters wuchs sie wohlbehütet auf. Ihr ältester Bruder, alleiniger Erbe des Gasthofes, wirtschaftete diesen jedoch bald zugrunde. Der finanziellen Grundlagen entzogen, sah sie sich gezwungen, sich ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Nun kam ihr zugute, dass der Vater auf eine gute Schulbildung der Kinder Wert gelegt hatte. Agnes Wabnitz bewarb sich erfolgreich auf eine Gouvernantenstelle. Doch bald kam es zu Auseinandersetzungen mit der herrschaftlichen Familie. Sie konnte oder wollte sich nicht unterordnen und anpassen, wie es von einer Gouvernante verlangt wurde.
Sie zog nach Berlin, pflegte ihre Mutter und verdiente ihren Lebensunterhalt als Heimarbeiterin für die Konfektionsbranche. Durch einen ihrer Brüder, der mit seiner Familie ebenfalls in Berlin lebte, kam Agnes Wabnitz bald in Kontakt mit der Sozialdemokratie. 1885 gründete sie mit anderen Heimarbeiterinnen den Berliner Mantelnäherinnenverein. Die Einführung eines Nähgarnzolls hatte das Fass zum Überlaufen gebracht.

Die Heimarbeiterinnen waren gezwungen, entweder mit den schlechteren Fäden aus deutscher Produktion zu nähen (welche häufig rissen) oder die Mehrkosten für das englische Garn aus eigener Tasche zu zahlen. Unter Berufung auf das Politikverbot für Frauen wurde er nach wenigen Monaten aufgelöst. Dass die Arbeiterinnen auf das Verbot des einen Vereins mit der Neugründung eines anderen reagierten, ließen sich die Behörden nicht gefallen und reagierten ihrerseits mit drastischen Geld- und Haftstrafen. Zu den Betroffenen gehörte auch Agnes Wabnitz. Die Freireligiöse Gemeinde gehörte zu den wenigen Organisationen, in die Frauen eintreten und in denen sie gleichberechtigt agieren konnten. Frauen besaßen hier das aktive und passive Wahlrecht. Seit der Gründung 1845 stimmten sie mit ab und konnten auch in den Vorstand gewählt werden. Über Aktivitäten von Agnes Wabnitz innerhalb der Freireligiöse Gemeinde, auf deren Friedhof sie ihre letzte Ruhestätte fand, ist bisher nichts bekannt. Eine Freundin, die noch im Todesjahr von Agnes Wabnitz eine Kurzbiographie über sie herausbrachte, zitiert sie mit den Worten: „Meine Seele hat später an allen drei Konfessionen (katholisch, evangelisch, jüdisch) herumgegrübelt, bis sie in der Anschauung unserer Freireligiöse Gemeinde Ruhe fand.“ Und verurteilt worden war sie nicht zuletzt auch wegen ihrer Angriffe auf die Kirche.
nach einem Text von Claudia von Gélieu